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Sog, Absunk und Schwell

29. Oktober 2020: Die neue Navigationsanlage auf Bora Bora ist fertig. Zwei Tage bleiben uns noch, um auch noch die kleineren Kanäle ohne Berufsschifffahrt befahren zu können, bevor die Saison endgültig beendet ist und die Brücken und kleinen Schleusen in die Winterruhe gehen. Wie schon im letzten Beitrag berichtet, machen wir uns auf nach Deutschland. Eine erste kleine Reise durch Friesland über die Ems nach Münster. Dort soll das Schiff ins Winterlager. Die örtliche Marina verspricht uns in mehreren Telefonaten, auch für ein Schiff unserer Größe ausreichend Tiefgang, Land- und Wasserliegeplätze zu haben. Für das Herausheben aus dem Wasser müsse man bei dem Gewicht natürlich einen schweren Autokran bestellen, aber da noch mindestens 2 weitere größere Schiffe im Dezember ausgekrant werden sollten, würden sich die Kosten verteilen.

Schaut nach einem guten Plan aus, denn wie heftig Corona auch werden wird, ein Pendeln von 60 km zwischen Münster und Gütersloh sollte eigentlich immer möglich sein. So könnte man dann die Winterüberholungsarbeiten selber ausführen. In Gütersloh werden wir den Winter bei der Schwiegermutter verbringen, die noch nicht gepflegt, aber durchgehend betreut werden muss. Wirklich ein guter Plan!

Essen und natürlich auch die passenden Getränke (!) haben wir für 4 Wochen gebunkert, denn wir wollen in Coronazeiten unabhängig sein. Zu dieser Zeit erwartet Deutschland bei Einreise aus Holland eine 14tägige Quarantäne, die wir mit unseren Vorräten locker einhalten können. Und wir wollen uns Zeit nehmen. Auf dem Wasser reisen ohne Stress, das ist unser Ziel.

Von Workum an der Nordostseite des IJsselmeers motoren wir 3 Tage durch die Kanäle von Westfriesland durch Schleusen und unter Hebebrücken hindurch bis Groningen und weiter nach Delfzijl in der Emsmündung gegenüber von Emden. Eine herrliche, sehr beschauliche Fahrt. Grasende Kühe und Schafe am Ufer wechseln ab mit kleinen Häusern und Gärten, die direkt ans Wasser gebaut sind. Ab und zu winken uns Radfahrer zu, die meist schneller sind als wir. Sehr selten nur begegnen wir einem anderen Motorboot – die Saison ist vorbei. Wir genießen die Landschaft, das Wetter, die Ruhe. Zeit für Gespräche. Zwischendurch stürmt und regnet es auch einmal heftig. Aber was soll´s, wir sitzen trocken im beheizten Fahrstand. Ein seltsames Gefühl, wo man doch als Segler stets dem Wind und Regen mit entsprechender Kleidung trotzen musste! Fast peinlich – irgendwie. Selbst unter den Seglern haben wir uns immer als „Warmduscher“ gesehen und bezeichnet, jetzt sind wir es endgültig!!! So ganz langsam und vorsichtig fangen wir an, den neuen Komfort zu akzeptieren und dann auch zu genießen. Bora Bora blubbert dahin mit ihrem beruhigenden überaus leisen Motorgeräusch. Übernachten ist kein Problem, denn es ist überall reichlich Platz. Nur die Berufsschifffahrt ist unterwegs. Schnell lernen wir, wo in den Kanälen die Festmacher so nahe beieinander liegen, dass auch Festmacher von Sportbooten noch bequem belegt werden können. Zahlen müssen wir auch nichts. Ist ja keiner da. Alles ist verlassen. Corona und Wintersaison.

Noch echte holländische Windmühlen

Super kleine Schleussen

Schöne Häuser direkt am Ufer

Häuser werden auch auf dem Wasser transportiert!
Autos werden auch transportiert

In Delfzijl kommen wir nach der letzten Schleuse ins Tidengewässer der Nordsee. Bei einfallender Dunkelheit erreichen wir den Hafen. Dort wird es dann richtig spannend, denn der Tidenstrom reicht bis ins Hafenbecken und Bora Bora treibt zwischendurch wie ein leichtes Blatt dahin, bis ich sie wieder unter Kontrolle habe. Zum Glück ist die Marina leer und ich habe Platz. Das muss ich noch üben!

Am Abend wird der Plan für den nächsten Tag entwickelt: Zunächst müssen wir die Emsmündung kreuzen und die Fahrrinne der Ems erreichen. Bei Tagesanbruch und einsetzender Flut muss es losgehen. So können wir den Flutstrom nutzen, der uns bis zur ersten Schleuse bei Herbrum mitnimmt. Das sind ca. 8 Stunden Fahrzeit bei Ausnutzung eines mit uns gehenden Tidenstroms von 2 Knoten. Bei Ebbe hätten wir den Strom gegen uns und keine Chance, in einem Tag die Schleuse zu erreichen.

Also 7 Uhr, Leinen los. Jetzt im November finstere Nacht. Nur die Lichter des Hafens leuchten. Vor uns legt ein großes Frachtschiff ab. Wir setzen uns mit respektvollem Abstand dahinter. Ob es wohl auch nach Deutschland in die Ems fährt? Kaum sind wir aus dem Hafen raus, ist fast nichts zu sehen. Dunkelheit und dicker Nebel. Wir hangeln uns von Boje zu Boje, die ja befeuert sind. Aber man erkennt immer nur schemenhaft die nächste Tonne. Die Lichter des großen Frachtschiffs sind schon verschwunden, es ist deutlich schneller als wir. Nur auf dem GPS sehen wir es noch, es biegt tatsächlich auch ein in die Ems. Der Strom versetzt uns bereits deutlich seitwärts. Der neue Radar weist den Weg. Sauber zeigt er die Bojen, die weiter voraus liegen und damit unseren Weg in die Emsmündung.

Schon vor Emden packt dann die Strömung fest zu. Inzwischen ist es hell und der Flutstrom reißt uns ab Emden förmlich Richtung Süden in die Ems hinein. Freunde von der SY Mojito, die das Revier gut kennen, hatten uns schon vorgewarnt. Die Ems wurde wegen der gigantischen Schiffe, die die Meyer- Werft in Papenburg baut, sehr tief ausgebaggert. Wegen dieser Ausbaggerung ist der Tidenstrom gewaltig. 4-6 Knoten messen wir in der Spitze. Da muss ich in der immer enger werdenden Ems mächtig aufpassen. Wir passieren das Emssperrwerk mit fast 19 km/h. Unglaublich, wie die hier die Riesenkreuzfahrtschiff bei solchen Stromverhältnissen durchbringen können! Wir schießen emsaufwärts, vorbei an Papenburg. Eigentlich hätten wir uns die Stadt einmal ansehen wollen, aber für die Sportschifffahrt werden die Schleusen im Winter nur gegen Wucherpreise in Betrieb genommen. Also weiter.

Die 2 große Schleusen bei Herbrum beenden die rasante Ems-Fahrt. Viel früher als berechnet kommen wir an.  Jetzt beginnt der Dortmund-Ems-Kanal, auf dem wir wieder mit unserer normalen Reisegeschwindigkeit von 12Km/h unterwegs sind. Im Marina-Ems-Park in Walchum machen wir fest. Der Wirt und gleichzeitig Hafenmeister ist noch da, obwohl sonst alles fast menschenleer ist. Und wir bekommen Strom und Wasser. Gleich 3 Tage bleiben wir bei gutem Wetter und tollem Service. Wir packen die Fahrräder aus und erkunden das Umland. Mit Begeisterung liefert uns der Wirt zweimal täglich Essen ans Schiff, zusammen mit köstlichem Bier einer lokalen Brauerei. Eine typische Win-Win-Situation!

Dortmund-Ems-Kanal
Marina Ems Park
Radausflüge
Morgentlicher Blick aus unserer Doppelkoje auf die herbstliche Emslandschaft
Schwer beladene Transportschiffe auf dem Dortmund-Ems-Kanal
Schleusen zusammen mit der Großschifffahrt
Wir übernachten, wo es gerade passt

Es geht weiter Richtung Süden nach Münster. In der Nacht gehen wir längsseits an ausgewiesenen Plätzen für die Sportschifffahrt entlang des Kanals. Diese Zonen sind allerdings so klein, dass nur 2 Schiffe unserer Größe hier überhaupt festmachen können. Wie geht denn das im Sommer, wenn hier Hochbetrieb ist, fragen wir uns.

Wir erreichen Münster. Genauer den Yacht Park Münster:

Nach Angaben der Werft soll es hier mindestens 1.50m Tiefgang haben. Hat es aber nicht. 80cm sagt, der Tiefenmesser, noch bevor ich den Liegeplatz überhaupt zwischen den 2 Festmacherpfählen erreiche. Ich stoppe auf. Vielleicht sind es nur Treibsand und Blätter, die es dem Echolot flacher anzeigen, als es tatsächlich ist. Ich schiebe Bora Bora im Zentimetertempo nach vorne, denn die Marina muss ja die Tiefe ihrer Anlage kennen.

Vorne am Steg gestikuliert einer wild und will mich einwinken. Wie ich das hasse! Ich soll nur zufahren, schreit er. Ich hasse diese selbsternannten Hilfskapitäne an Land. Ich gebe vorsichtig mehr Schub. Aber Bora Bora hat schon Grundberührung. Das spüre ich. Gut, dass sie einen durchgehenden massiven Festkiel hat. Auch die Stabilisatoren sitzen sicher rund 30cm höher. Vorsichtig schieben wir uns durch den Schlamm zwischen die Festmacherpoller. Dort ist es mit 1,20 m wieder tiefer, Bora Bora schwimmt wieder.

Das Schiff ist schnell vertäut. Obwohl es Sonntag und die Marina eigentlich geschlossen ist, eilt der Eigentümer des Yachthafens herbei. Er bringt auch eine Standleiter, damit wir die 2m vom Bug auf den Steg hinunterklettern können. Leichter wäre es doch, das Schiff umzudrehen, meint er. Mühsam bleibe ich freundlich und verweise darauf, dass es wohl keine gute Idee sei, rückwärts mit Ruder und Propeller durch den Schlamm zu fahren. Gerade überlegen wir, wie wir unser ganzes Gepäck über die wackelige Standleiter auf dem noch wackligeren Steg sicher an Land bekommen sollen, da fährt ein großes Transportschiff vorbei. Bora Bora ruckt sehr hart und unwillig in die Festmacher ein. Ungewöhnlich, denn das Wasser ist ruhig. Bora Bora liegt quer zum Hauptfahrwasser und das scheint ihr gar nicht zu gefallen.

Zusätzlich zu den normalen Festmacherleinen bringen wir die superschweren Festmachertrossen mit Ruckdämpfern vorn und hinten sowie an jeder Seite aus, denn wir vermuten, dass Sog und Schwell der Großschifffahrt Unruhe schafft. Diese Leinenkombination hat uns schon bei unseren Segelschiffen in den schlimmsten Stürmen und Häfen mit Wellengang beste Dienste erwiesen.

Keinen Moment zu früh. Ich kontrolliere gerade noch, ob die beiden Festmacherleinen hinten an Steuerbord im richtigen Maße Lose zueinander haben, da merke ich, wie das Wasser urplötzlich aus dem kleinen Hafenbecken förmlich herausgesaugt wird und unter Bora Bora wie ein Wildbach nur so dahin gurgelt. Ich verstehe gar nichts. Ist doch alles ruhig. Kein großes Schiff in unmittelbarer Sicht. Dieser Ebbstrom nimmt zu und schon legt sich Bora Bora immer mehr nach Backbord über. 10 Grad, 20 Grad, 30 Grad schätze ich. Es klappert und poltert unter Deck. Angela schreit.  Das Schiff kentert, schießt es mir durch den Kopf. In letzter Sekunde wird es durch die Festmacher festgehalten. Ein fürchterliches Quietschen und Krachen in den Trossen. Jede Sekunde erwarte ich, dass sie reißen. Dann richtet sich das Schiff urplötzlich wieder auf. Wackelt etwas hin und her. Fertig? Falsch. Jetzt strömt das Wasser zurück ins Hafenbecken und Bora Bora legt sich nach Steuerbord über. Es donnert und scheppert wieder unter und über Deck. Maximale Schieflage, bis die Trossen das Schiff in maximaler Schieflage festhalten. Wieder ein verdächtiges Knacken in den Leinen. Nach einigen Sekunden ist auch dieses Phänomen vorbei. Bora Bora pendelt zurück.

Tumult auf Bora Bora. Im Salon unten Chaos. Alle Schubladen auf, alles liegt kreuz und quer. Angela und ich schauen uns um. Ist was kaputt? Was war das? Gab es einen Tsunami, ein Erdbeben? Was um Gottes Willen war das?

Das Wetter ist schön und alles ist ruhig. Friedlich sieht man ein großes Transportschiff dahinziehen. Es ist windstill. Ein sonniger Herbsttag. Der Hafenmeister ist nicht mehr zu sehen.

Wir beruhigen uns etwas und versuchen nachzudenken. Das können eigentlich nur die in nächster Nähe vorbeifahrenden Schiffe sein. Aber sie fahren langsam. Sie machen auch kaum Wellenschlag durch ihre Bugwelle. Warum bringen sie Bora Bora fast zum Kentern? Kann doch nicht sein! Doch das Lehrbuch sagt, man solle sich vor Sog und Schwell der Großschifffahrt hüten und Abstand halten. Ja logisch, haben wir immer gemacht.  

Da sehen wir hinter den Bäumen am Kanal, wie sich ein großes Tankschiff nähert. Und wieder beginnt das Wasser aus dem Hafenbecken herauszuströmen. Zuerst ganz langsam. Unglaublich! Dann immer schneller. Dann wieder wie ein Gebirgsbach. Noch ist das Schiff hinter den Bäumen gar nicht aufgetaucht und Bora Bora legt sich schon wieder über! Es ist aber nicht so schlimm wie vorher. Bora Bora krängt zwar mächtig erst nach rechts und dann nach links. Sie reißt auch in den Festmachern, aber nicht so extrem. Das Transportschiff zieht vorbei. Das Wasser strömt zurück.

Wir beobachten: Das Wasser wird schon herausgesogen, wenn sich das Schiff nur annähert. Wenn es vorbeifährt, dann ist der Wasserstand im kleinen Hafenbecken minimal. Nach kurzer Zeit strömt das Wasser wieder zurück. Dann kommt noch die Heckwelle des Schiffes hinterher und „klopft“ nochmal richtig an. Also, noch halten die Leinen, aber wenn da ein Großer und dazu auch noch schnell vorbeifährt, dann knallt es. Wir müssen hier weg, und zwar schnell, das steht fest.

Noch können wir uns nicht erklären, warum nur Bora Bora so extrem schaukelt und die anderen kleinen Boote rechts und links von uns nicht. Egal, nichts wie weg! Hier machen wir unser schönes neues Schiff kaputt.

Schon wollen wir ohne weiter nachzudenken die Leinen loswerfen, da realisieren wir, dass wir natürlich nur ablegen können, wenn gerade kein Transportschiff in der Nähe ist. Wie wir gesehen haben, stellt sich der Sog schon ein, bevor wir das Schiff überhaupt sehen können. Und in so einem gewaltigen Sog könnten wir Bora Bora gar nicht manövrieren.

Schalte die Navigation an, rufe ich Angela zu, denn damit können wir über das AIS alle Schiffe im größeren Umkreis eindeutig identifizieren. Ein Hoch auf die neue Navigationsanlage! Ruckzuck ist das Bild mit allen Signalen auf dem Schirm zu sehen: Oh nein, von Süden kommen zwei und von Norden eins. Es hilft nichts, die müssen wir erst noch abwarten. Auch wissen wir nicht, wie schnell wir hier ausparken können. Denn Bora Bora steckt ja sicherlich im Schlick fest.

Schnell wird alles unter und über Deck notdürftig festgemacht und verschlossen. Dann heißt es einfach nur abwarten. Die 2 Schiffe aus Norden lassen Bora Bora zwar mächtig schaukeln und in den Leinen rucken, aber offensichtlich ist das Strömungsverhalten irgendwie besser für uns, wenn die Schiffe aus Norden kommen. Oder sie fahren besonders langsam. Aber das Teil aus Süden wird Ärger machen, wir sehen schon am AIS, dass es recht groß und dazu auch noch schnell ist.

Wir halten uns an der Reling fest und warten ab. Sch… Gefühl, aber mehr können wir gerade nicht tun. Das Wasser fließt bereits ab, obwohl wir das Schiff noch gar nicht sehen können. Genauso wie vor einer Viertelstunde. Erst langsam, dann immer schneller, als würde der Hafen ganz auslaufen. (Wie bei einer Badewanne, wenn man den Stöpsel zieht!) Bora Bora kippt weg und legt sich superhart in ihre Trossen. Entweder bricht jetzt eine Trosse oder ein Beschlag reißt aus oder ein Poller bricht oder der Schwimmsteg wird abgerissen oder… Das hält kein Material aus! Die Trossen sind zum Zerreißen gespannt. Qualvolle Sekunden. Der Strom kippt und Bora Bora schwingt zurück, jetzt aber mit voller Schwungkraft genau in die entgegengesetzte Richtung. Mit Schwung knallt sie schätzungsweise mit weit über 30 Krängung nach Backbord und 28 Tonnen krachen mit voller Energie in die Festmachertrossen der anderen Seite. Das hält kein Schiff, keine Trosse und kein Steg aus, schreie ich Angela zu. Irgendwas bricht jetzt!!!! Aber es hält!

Vorbei! Nach der letzten Tsunami-Welle lasse ich den Motor an. Angela wirft alle Leinen los. Das sind immerhin 10 Festmacherleinen (4 vorne, 2 Springs mittschiffs nach achtern, 4 achtern), was einige Minuten dauert. Ein Blick auf das AIS. Die nächsten Schiffe tauchen bereits auf dem Schirm auf. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Ich lasse den Motor im Leerlauf noch Warmlaufen, denn wir werden gleich volle Leistung brauchen, um aus dem Schlick rauszukommen.

Fertig??? Leinen sind los, Schiff ist frei!!!

Ich hau den Rückwärtsgang rein und lass den John Deere mit 6.8 Liter Hubraum arbeiten. Bora Bora ruckelt erst, schiebt sich dann aber langsam und beständig aus der Box. Nur nicht steckenbleiben! Aber auch nicht zu schnell, das Ruder sitzt bei Rückwärtsfahrt vorne und könnte beschädigt werden! Bora Bora macht das ganz souverän, so als wäre überhaupt nichts passiert. Nur das aufgewühlte dreckige Wasser zeugt davon, was da unter Wasser gerade abläuft. In Rückwärtsfahrt erreichen wir das Hauptfahrwasser, drehen und fahren erst einmal zurück zum sicheren Liegeplatz der vergangenen Nacht. Nach der Aufregung müssen wir uns erst einmal sortieren.

Was war passiert? Wir recherchieren.

Die Schrauben der großen Fahrschiffe erzeugen einen gewaltigen Sog. Sie ziehen das Wasser sozusagen von vorne nach hinten. Deswegen sinkt das Wasser vor ihnen ab.

Sog, Absunk und Schwell von Großschiffen

Für besonders Interessierte: Folgendes YouTube Video zeigt den Sog und Absunk-Effekt von Schiffen mit dem anschließenden Rücklaufen des Wassers. Es dauert nur 3 Minuten. Ist ohne Sprache. Nur den kleinen Felsen mit der kleinen Bake in der Mitte des Bildes anschauen, während sich das Schiff von links nähert. Nur zuschauen und warten. Ist alles selbsterklärend. Das Schiff ist natürlich größer als ein Binnenschiff, aber das Fahrwasser auch viel breiter als der Dortmund-Ems-Kanal.

Video von der Bundesanstalt für Wasserbau BAW

Zweiter Effekt. Bora Bora lag quer zum Fahrwasser und stand mit dem Kiel fast auf dem Grund. Der Sog des auslaufenden Wassers wollte unter ihrem Kiel durchströmen. Da das nicht möglich war, wurde sie durch den Wasserdruck unter der Wasseroberfläche zur Seite gekippt. Und beim Rückstrom des Wassers wieder in die andere Richtung. Die kleineren Nachbarschiffe hatten nicht so viel Tiefgang, deshalb schaukelten sie zwar auch heftig, aber das Wasser konnte einfach unter ihnen durchfließen. Das Problem war also Bora Boras Tiefgang. Dem Hafenmeister war das bestimmt bewusst. Aber wann kriegt man schon mal einen 28 Tonner an den Hacken, so einen fetten Braten will man sich natürlich nicht entgehen lassen.

Längs zur Fahrtrichtung liegt Bora Bora übrigens völlig ruhig am Rande des Fahrwassers neben den fahrenden Schiffen, wenn wir über Nacht irgendwo liegen. Aber dann liegt sie erstens nicht auf Grund und zweitens stellt sie für Sog und Rückstrom keinen Widerstand dar. Das Wasser fließt einfach nur in Schiffsrichtung an ihr vorbei.

Siehe Bilder unter zur Erläuterung.

Bora Bora wird zum Grundsitzer während des Absunk durch das vorbeifahrende Schiff

„Again what learnt“, heißt es so schön. (Sorry to our English speaking friends for this mistreatment of your language) Wir machen eine Inspektionsrunde am Schiff und überzeugen uns, dass alles ok ist.

Übrigens beobachten wir ab sofort dieses gewaltige Kraftphänomen von Sog, Absunk und Schwell auf der ganzen Reise. Meinen Ärger darüber, dass ich mich nicht früher intensiv damit beschäftigt habe, können sich wahrscheinlich diejenigen vorstellen, die mich besser kennen!

Wenn uns ein großes Schiff entgegenkommt, beschleunigt Bora Bora um 1-3 km/h (immerhin bis zu 25%)  je näher wir kommen. Sie wird förmlich angesogen. Und wenn wir von einem Großen überholt werden, dann verlangsamt sich Bora Bora ebenfalls. Sie wird wie von einem Gummiband nach hinten gezogen. Unglaublich, aber wahr. Diese Kräfte lassen uns vorsichtiger gegenüber diesen friedlichen Riesen auf den Binnenwasserstraßen werden. Inzwischen haben wir auch realisiert, warum es so schwierig ist, ein etwas langsamer fahrendes großes Transportschiff zu überholen. Wir haben es zweimal gemacht. Sobald wir querab vom Ruderhaus des anderen Fahrzeugs sind, wird Bora Bora aufgrund des Sogeffektes schrittweise signifikant langsamer und schiebt sich zu allem Überfluss auch noch näher an den Großen ran. Selbst bei Vollgas dauert es eine Ewigkeit, bis wir am Bug vorbei sind. Dazu müssen wir immer schauen, seitlich möglichst viel Abstand zu behalten. Inzwischen überholen wir nur noch, wenn das andere Schiff ausgesprochen klein und/oder extrem langsam ist.

Also wieder mal eine Planänderung!!! Dabei hatten wir gedacht, mit einem Motorboot wäre das vorbei. Weit gefehlt!  Definitiv ist die Marina in Münster entgegen aller Beteuerungen des Besitzers für ein Schiff unserer Größe ungeeignet. Einen ganzen Tag telefonieren wir in ganz Norddeutschland herum auf der Suche nach einem passenden Winterliegeplatz. Zu spät und zu groß, lautet die Antwort.

Münster Museum City Hafen
Münster, richtig hübsch,aber alles zu – Corona Lockdown

Ich kürze jetzt ab und lasse eine ganze Reihe von Kapriolen aus (z.B. einen anvisierten Platz neben einer Kohlehalde im Duisburger Industriehafen. Das war dann der Moment, wo unsere Freunde Tina und Bernd an unserem Verstand zweifelten und dies Gott sei Dank auch vorsichtig, aber dennoch relativ ehrlich formulierten!) Letztlich offerierte uns unsere Heimatmarina in Hindeloopen einen Platz in der Halle: Kein Problem, Bora Bora ist willkommen! Also zurück nach Holland! Dieses kleine Land zeigt halt immer wieder und überall seine Vorliebe für 2 Fortbewegungsmittel: Fahrräder und Boote!

Route Hindeloopen/NL über Münster/DE nach Hindeloopen/NL

Also dann: Weiter nach Westen bis Datteln. Dann rechts in den Wesel-Datteln Kanal bis zum Rhein. Dann rheinabwärts bis Emmerich und rechts in die IJssel bis zu IJsselmeer. Dann quer durch Richtung Norden bis Hindeloopen. Viele gigantisch große und hohe Schleussen sind zu passieren, dann den schnell fließenden Rhein bei Niedrigwasser runterfahren und die superschnell fließende, eng gewundene IJssel nach Norden. Das wird spannend, denn schnell fließende Gewässer bei typischen Winter-Niedrigwasser mit viel Berufsschifffahrt und reichlich Seil-Querfähren sind für uns völlig neu.

Hohe Schleussen
Gewaltige Brückenbauwerke
Niedrige Brücken mit Durchfahrtshöhe unter 5 m, sodass wir unseren Geräteträger mit den Antennen absenken müssen. Geht alles hydraulisch auf Knopfdruck!
Und ganz niedrige Brücken, wo wir unnötigerweise sogar den Kopf einziehen

Unsere Reise dauert länger als geplant. Wie zugesagt muss und will Angela ihre Schwester bei der Betreuung der Mutter ablösen. Was nun? Also wieder Planwechsel und ein Crewwechsel. Tina und Bernd zeigen wieder einmal die seglerische Flexibilität und sind innerhalb von 2 Tagen an Bord. Angela nimmt das Auto der Wuppertaler und fährt nach Gütersloh. Sie wird uns in Hindeloopen in 4 Tagen wieder abholen, dabei aber nicht länger als 24 Stunden im Land bleiben. Corona macht in diesen Zeiten jedes Unterfangen schwierig!

Der Kreis schließt sich, zurück geht es nach Holland. 3 tolle Bootstage erlebe ich mit unseren Freunden Tina und Bernd. Alles läuft reibungslos. Bernd und ich wechseln uns am Steuer ab. Wie schon auf dem Atlantik versorgt uns Tina mit Essen und Trinken. Nur kocht sie jetzt auf ebenem Kiel auf einem Induktionsherd und Pantry sowie Salon sind auf angenehme 23 Grad geheizt. Aus dem Radio tönt stimmungsvolle Musik, während der Motor im Hintergrund leise brummt. Ich glaube, das hat ihr und mir sehr gut gefallen. Ich meine, sogar viel besser als auf dem Atlantik.

Wir nähern uns dem Ruhrgebiet. Die Industrieanlagen werden größer.
Bernd und Tina sind wieder an Bord. Wie schön!!
Eine gründliche Begutachtung der Maschinenanlage ist für den „Ersten“ selbstverständlich
Der Rhein
Stillgelegtes Atomkraftwerk Kalkar am linken Rheinufer
Gewaltige Hubbrücke kurz vor dem Ijsselmeer
Hansestadt Kampen
Endspurt nach Hindeloopen auf dem IJsselmeer
Die letzte Nacht im Hafen Urk – im Fenster spiegelt sich Tina in der Pantry – Es ist saugemütlich!
In Hindeloopen geht Bora Bora ins Winterlager in die Halle.
Gütersloh: Wir feiern Weihnachten mit Schwiegermutter Margret, die wir in den Wintermonate betreuen. So beenden wir das Jahr wie geplant!!!

Von ganzem Herzen wünschen wir Euch allen ein gutes und gesundes Neues Jahr.

Wenn es im Frühjahr weitergeht, melden wir uns wieder. Es wird anscheinend doch nicht so ganz langweilig bei uns, denn es zeigt sich: Normal können wir irgendwie nicht!

Beste Grüße,
Christoph und Angela

1 replies »

  1. Klasse geschrieben. Wir verfolgen mit großer Aufmerksamkeit Eure neuen segellosen Abenteuer. So ist Bora Bora wieder in Holland und Flora wieder in Antigua, ursprünglich nicht geplant, aber gut. Wobei wir allerdings hoffen, nächste Woche dann weiterziehen zu können. Mal sehen. Ganz liebe Grüße
    Wiebke und Ralf
    SY Flora

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