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Kein richtiger Seenotfall

(Vorwarnung: Es ist mir bewusst, dass dieser Bericht den Umfang eines normalen Blogbeitrags sprengt. Die letzte Woche war aber so ereignisreich, dass Kürzen sehr viel Aufwand bedeuten würde. Außerdem muss alles ja irgendwie verarbeitet werden! Das Lesen wird euch also einige Zeit kosten – wer die nicht hat, der nächste Beitrag wird wieder kürzer – versprochen!)

Horta, Azoren, Montag 15. Juni 2020, 10 Uhr vormittags. Eine blaue Yacht und ein Dinghi liegen am neu eingerichteten 2. Quarantänesteg der Marina. Einige Marsmenschen in weißen Schutzanzügen laufen hin und her zwischen dem Steg und einem Büro oder bewachen die Absperrungen. Ein Mann in einer weißen Uniform stolziert umher und scheint sich sehr wichtig zu fühlen. Der Portmanager? Es ist der 1. Tag, an dem die Yachtis, die 3 Wochen auf dem Ozean unterwegs waren und teilweise seit Wochen abgeschottet in der Marina liegen, einen Koronavirustest machen dürfen. Von unserem Beobachtungsposten an Bord der Ithaka sehen wir, dass bis zum Ende der heutigen Testkapazität um 12.30 Uhr nur Familien mit Kindern anlanden. Verständlich!

Quarantänequai Horta

Mittags erreicht uns eine Mail von Sebastian Wache von Wetterwelt: „Es sieht sehr gut aus. Sehr gerne könnt ihr am Mittwochmorgen starten. Ein direkter Kurs in Richtung Ärmelkanal erscheint möglich.“ Das wären ja nur 1250sm bis Cherbourg, also nur knapp 10 Tage! So ganz daran glauben können wir nach 2 abgebrochenen Startversuchen nicht. Unser Captain, abergläubische wie fast alle Segler, weist seine Crew an, nicht darüber zu sprechen, weil es dann wie so oft wieder nicht klappen würde. Die Crew hält sich fast 100% an diese Anweisung! Erneut beginnen wir mit den schon bekannten nicht unerheblichen Vorbereitungen. Abends um 6 Uhr dann der Funkspruch: Ithaka, Ithaka, this is Horta Marina. – Horta Marina, this is Ithaka. – Ithaka, you are allowed to come ashore for the virustest tomorrow morning. Blöder konnte es ja nicht kommen!! Hin und hergerissen sind wir zwischen dem Bedürfnis, in zwei bis drei Tagen endlich Land und Peters Cafe Sport betreten zu dürfen und dem großen Wunsch, endlich nach Hause segeln zu können. Letztendlich erfolgt die Entscheidung wieder einstimmig: Wir segeln. Zu groß ist die Sorge, wieder 3 Wochen auf das nächste Wetterfenster warten zu müssen.

Wir verlassen Horta am Mittwochmorgen um 7 Uhr im Nieselregen – irgendwie unwirklich. Kein Mensch auf den vielen Yachten, durch die wir hindurchfahren; noch niemand im Marina Office, bei dem wir uns abmelden können. Seltsame Stimmung. Jeder Anblick so vertraut und jetzt stehlen wir uns irgendwie davon. Unter Motor geht es nach Norden. Fast jeder Segler kennt das. Nach einer längeren Zeit an Land oder vor Anker muss man sich an die Schaukelei erst wieder gewöhnen. Bernd gibt sein Frühstück schon nach einer Stunde wieder ab, Tina und mir ist ziemlich koderig und wir belegen schon bald die beiden Sofas im Salon. Nur Christoph ist noch fit!! Sollten die neuen Medikamente gegen Seekrankheit kombiniert mit der Diabetesmedikation tatsächlich helfen? Nach Passieren der letzten Insel geht es unter Segeln aufgrund der Windbedingungen zunächst einmal gen Ost. Die Schiffsbewegungen werden angenehmer. Über Kurzwelle hereinkommende Mails von Trans-Ocean und Wetterwelt berichten von einem Sturmtief nördlich von uns und raten uns, südlich von Nord 41° zu bleiben. Da wären die Böen nicht stärker als 35 Knoten. Okay, überredet! Wie war das nochmal mit dem direkten Kurs???

Anker auf
Auf zur nächsten Etappe
Ein letzter Blick auf Horta
Ithaka auf Kurs Richtung Ärmelkanal

Aufgrund von leichtem Unwohlsein streikt die Köchin, deshalb gibt es nur Nudeln mit Fertigsoße, zumindest aber mit frisch geriebenem Parmesan. Aber etwas anderes hätten wir alle vier heute auch nicht runtergebracht. Nach der 1. Portion kommt´s: „Bleibt mal sitzen“, sagt Christoph sehr ernsthaft, „wir müssen was besprechen!“ Und dann stellt er die Überlegung in das Cockpit, aufgrund der Wettervorhersage und vor allem aufgrund des ungewohnten Unwohlseins der weiblichen Crew zur Insel Terceira abzulaufen und im dortigen Hafen das Sturmtief abzuwettern. Geht´s noch??? Unseretwegen?!?! Ein kurzer Blick zwischen Tina und mir genügt; wir sind uns einig! Im vereinten Protest sind wir ziemlich stark. Am Anfang einer längeren Reise wird man doch wohl mal Anpassungsschwierigkeiten haben dürfen!!! – Es geht also weiter. Nach dieser Diskussion war uns beiden übrigens nicht mehr schlecht. Der erhöhte Adrenalinspiegel hat es wahrscheinlich gerichtet.

Nach einem ruhigen 2. Tag bekommen wir ab dem 3. Tag die Auswirkungen des Sturmtiefs zu spüren. Bedeckter Himmel und Böen bis zu 35 kn, das ist Windstärke 8. Ist aber nicht schlimm, denn der Wind ist achterlich und lässt Ithaka nur unter Genua mit Geschwindigkeiten bis zu 12 kn die Wellentäler hinuntersausen. Allerdings immer noch nach Ost, d.h. Richtung Lissabon. Nach Durchzug des Tiefs können wir endlich mit dessen Windschleppe Kurs setzen in Richtung Nordost zum Eingang des Ärmelkanals. Bei ordentlichen 25 bis 28 kn achterlichem Wind laufen wir mit guter Geschwindigkeit unserem Ziel entgegen. Nur die Wellen sind mit 3,50m recht hoch und lassen Ithaka samt Crew oft heftig umhertanzen.

Große Wellen von hinten. Auf dem Achterdeck ist das Dinghi festgezurrt

Um 20.15 Uhr auf Position 41°15´ Nord und 19°01´West passiert es! Bernd und ich sind im Cockpit. Ungläubig sehen wir plötzlich eine riesige Wellenwand von ca. 5 Metern von der Backbordseite heranrollen. Zu spät! Wir können nicht mehr reagieren. Mit einem lauten Schlag wird Ithaka mit der Steuerbordseite flach aufs Wasser gedrückt. Trotz Antirutschmatten fliegen die Teller des Abendessens durchs Cockpit und schlagen mit lautem Getöse auf. Kissen, Schwimmwesten, Jacken, Mützen – ein heilloses Durcheinander herrscht im Cockpit, als Ithaka sich wieder aufrichtet. Der Autopilot schlägt Alarm – no rudder feedback. Bernd springt ans Steuerrad. Was ist los? Es lässt sich nicht bewegen, auch im Standby-Modus nicht! Einige Wechsel zwischen Autopilot und Standby später scheint die Gefahr gebannt. Der Autopilot steuert wieder sicher unserem Ziel entgegen. Jetzt können wir uns in Ruhe umschauen. Da wird uns erst richtig klar, dass tatsächlich die gesamte Steuerbordseite durchnässt ist, das heruntergeklappte Bimini, Rettungsring und Leine, die Sitze am Heck, alles nass. Sogar vom Außenborder, der gut 3m über der Wasserlinie montiert ist, tropft es. Die Leinen, die an der äußeren Süllkante aufgeschossen waren, hat es teilweise ins Wasser geschwemmt. Gott sei Dank ist auch unter Deck nicht viel passiert. Tina wurde zwar über den Tisch geschleudert, konnte sich dann aber noch halten. Natürlich wurde alles nicht in Schränken Verstaute gleichmäßig im Salon verteilt.

Nach dem Aufräumen die Feststellung: Wir brauchen Strom für die Nacht. Unsere Batterien müssen dringend geladen werden. Nur wie? Der Wellengang ist definitiv zu hoch, um den Generator laufen zu lassen. Das gleichmäßige Ansaugen des Öls wäre nicht gewährleistet. Außerdem könnte er Luft ziehen. Und motoren? Auch nicht gut, denn schon unter Segeln ist Ithaka extrem unruhig. Das wäre unter Motor noch viel heftiger. Aber wir haben ja noch den tragbaren Generator von der Festina Lente! Der wird ins Cockpit gehievt und angeschlossen. Macht zwar einen Heidenlärm, funktioniert aber. Nur bei Krängungen deutlich über 20 ° muss Bernd ihn kippen, damit er genug Öl bekommt.

Nach überstandenem Schreck und getaner Arbeit sitzen Bernd, Tina und ich noch im Cockpit. Die Wellen sind zwar immer noch hoch, eine weitere Schreckenswelle ist aber nicht in Sicht. Bernd sagt keinen Ton, macht aber ein angespanntes Gesicht. Auf Nachfrage erklärt er, dass er darüber nachgrübelt, warum die markierte Mitte des Steuerrads plötzlich an der Seite ist. Nach einer weiteren Stunde fragt er mich, wie er an die Ruderanlage des Schiffs kommen kann. Linke Matratze in der Achterkabine vorziehen, rechte darüber klappen, hintere Mittelwand aushebeln, dann. Nach 10 Minuten erscheint er wieder, bleich im Gesicht. Er weckt Christoph, der im Salon schläft: „Komm mal mit!“ Zu zweit inspizieren sie die komplette Ruderanlage ein weiteres Mal. Das Resultat: Die Ruderstange muss einen mächtigen Schlag bekommen haben; sie hat einen massiven Knick. Das hat Auswirkungen auf die Steuerbarkeit des Schiffes. Das Ruder kann nur noch eingeschränkt nach links und rechts bewegt werden. Miteinander beratschlagen wir das weitere Vorgehen. Riskieren, weiterzufahren? Brest im Süden des Ärmelkanals anlaufen? Wir entscheiden uns abzudrehen, um auf kürzestem Weg das Festland zu erreichen. Am besten A Coruna oder Vigo in Galizien, da kennen wir uns aus.  Inzwischen ist es finster, dennoch versuchen wir bei sehr langsamer Fahrt unter Motor zu viert herauszufinden, wie weit das Ruder noch ausschlagen darf. Christoph dreht vorsichtig am Lenkrad, Bernd hat ganz hinten in der Achterkabine die Ruderanlage im Blick. Tina und ich bilden die Rufreihe durchs Schiff. 5° – 5° – 5° – Verstanden! Jetzt andere Richtung – jetzt andere Richtung – jetzt andere Richtung – okay, verstanden, andere Richtung. Wenn uns jetzt einer sehen könnte! Nach einer halben Stunde wird der Ruderausschlag auf 10 ° festgelegt, der Autopilot eingestellt. Christoph, nach der ganzen Aufregung und Aktion wieder seekrank, wankt auf das Salonsofa, Bernd ins Vorschiff und Krankenschwester Tina liegt auf dem kurzen Sofa und versorgt Christoph. Ich ziehe mich warm an und beginne meine Hundewache (die zwischen 24 und 3 Uhr).

Es ist 2.30 Uhr. Noch eine halbe Stunde, dann werde ich abgelöst. Nein! Nicht schon wieder! Wieder tönt das laute, nervtötende Piepen des Autopiloten durch das ganze Schiff. Ich sause von der Cockpitbank hinter das Steuerrad. Komische Alarmmeldung! Rudder overloaded! Ithaka bricht aus, das ist auch in der Dunkelheit zu spüren. Ich steuere manuell, versuche sie wie immer zurück auf die Kurslinie zu bringen. Vergeblich! Fassungslos schaue ich auf den Kompass in der Steuersäule. Trotz festgehaltenen Lenkrads wandert die Anzeige immer weiter. Wir fahren im Kreis! Und ich kann nichts dagegen tun. „Hier stimmt was nicht. Ich kann sie nicht auf Kurs bringen“, schreie ich hinunter ins Schiff. „Du musst Stützruder geben, das weißt du doch!“ Mein Mann erscheint spärlich bekleidet im Niedergang. „Bin ja nicht blöd, geht aber nicht“, motze ich, inzwischen ziemlich erregt. Im Schlafanzug erscheint Bernd, hinter ihm Tina. „Ich kann sie nicht steuern“, jammere ich. Bernd verschwindet in der Achterkabine. Seine Erkenntnis ist niederschmetternd. Die Ruderstange ist komplett durchgebrochen, wir sind manövrierunfähig.

Es ist stockfinster. Kein Mond, keine Sterne. Nieselregen. Und Ithaka treibt antriebslos, schlingernd und rollend in heftiger Welle, auf dem weiten Atlantik. Position 41°33´N, 18°27´W. Die Notpinne muss in Betrieb genommen werden. (Die Notpinne ist ein großes Aluminiumrohr, das auf dem Achterdeck direkt über dem Ruderblatt in eine Vorrichtung eingesetzt wird. Mit dem Hebel dieser Stange lassen sich die 20 Tonnen Schiff mit viel Kraftaufwand von Hand steuern.) Hinten auf dem Achterdeck liegt aber fest verzurrt unser schweres Dinghi. Das muss da weg, sonst geht es nicht. Schwimmwesten anlegen, einpieken.  Mit vereinten Kräften schleppen wir im Hau-Ruck-Verfahren unser Beiboot über das schmale seitliche Laufdeck auf das Vordeck und binden es fest. Jetzt wird die Notpinne eingesetzt. Wie gut, dass Christoph sie vor der Abfahrt in der Karibik noch einmal abgeschliffen und gefettet hat. Sie lässt sich anstandslos montieren und bewegen. Nun werden zwei Leinen an der Pinne befestigt, über Blöcke nach rechts und links ins Cockpit geführt und jeweils über eine Steuerbord- und Backbordwinsch gelegt. Mit den Winschkurbeln lässt sich dann die Pinne mit deutlich weniger Kraftaufwand je nach Bedarf nach rechts und links ziehen. Tina und Bernd übernehmen zuerst. Mit sturem Blick auf den Plotter, der die zu fahrende Kurslinie zeigt, werden die Leinen mit der Winsch dichtgenommen oder gefiert. Keiner von uns hat das je zuvor ausprobiert und es dauert eine Zeit, bis die Kurslinie einigermaßen angelegt werden kann. Nach zwei Stunden, es ist immer noch Nacht, sind sie gut eingespielt und halten Ithaka wieder auf Kurs. Inzwischen schicke ich über Kurzwelle eine Nachricht an Trans-Ocean und Wetterwelt mit der Frage nach dem weiteren Vorgehen und dem genauen Wetter in den nächsten Stunden und Tagen. Später erfahren wir, dass sie nie angekommen sind. Muss wohl nach der 3. schlaflosen Nacht vergessen haben, eines der vielen Knöpfchen zu drücken. Christoph kotzt sich inzwischen die Seele aus dem Leib. So kann es nicht auf Dauer weitergehen; wir sind jetzt schon fast am Ende unserer Kräfte!

Notpinne mit Steuerleinen

Es muss aber so weitergehen! Inzwischen wird es langsam hell. 6 Uhr bei uns, 8 Uhr in Deutschland. Tina und Bernd bedienen immer noch die Notpinne, Christoph liegt auf dem Sofa und gibt Anweisungen. Ich übernehme die Kommunikation. Über das Satellitentelefon kontaktiere ich zuerst die Schiffsversicherung in der Schweiz. Sie wird uns bestimmt sagen können, wie das weitere Vorgehen ist. Niemand zu erreichen, es ist Sonntag! Dann eine Satmail absetzen zu den Funkern von Intermar, die das Rolling Home Team von Trans-Ocean unterstützen. Hoffentlich hat dort jemand Erfahrung mit solchen Situationen und kann uns beraten. Dann wieder ein Anruf per Satellitentelefon bei der Seenotrettungsleitstelle in Bremen (MRCC). Schon öfter haben wir gelesen, dass die sehr hilfsbereit und unterstützend sein sollen. Ich schildere dem Wachhabenden unseren Fall und frage, was wir tun sollen. Seine Antwort ist ziemlich ernüchternd. Wir sind kein Seenotfall. Mit der Notpinne sind wir manövrierfähig, wenn auch eingeschränkt. Kein Seenotfall? Das kann doch nicht sein! Wir fühlen uns aber so!!! Trotz Notpinne! Sie behielten uns aber über AIS im Auge, sagt er noch. Wenigstens das! Im gleichen Tonfall wie man gefragt wird, ob man ein Taxi bestellt haben möchte, sagt er mir dann: „Wenn Sie trotzdem abgeborgen werden wollen, sagen Sie uns Bescheid.“ Abgeborgen, also entweder von einem Frachter oder in Küstennähe auch von einem Hubschrauber aufgenommen werden, wollen wir bestimmt nicht! Dann müssten wir Ithaka aufgeben und einfach so den Weltmeeren überlassen. Aber wir wollen irgendwie Hilfe! Kann uns denn keiner abschleppen? Oder ans Festland beamen? Oder …? Oder…?

Es muss so weitergehen! Und zwar noch 470 Seemeilen. Das sind knapp 4 Tage. Nach dem ersten Schock bekommen wir langsam wieder einen klareren Kopf. Im 3-Stunden-Rhythmus muss je ein Paar die Notpinne bedienen, die Zeit müssen die anderen nutzen zum Schlafen, Essen und Funken. Wir werden bis an unsere körperlichen und vielleicht auch psychischen Grenzen gehen müssen. Die ersten Satmails erreichen uns. Uwe von Intermar und Astrid von Trans-Ocean schicken uns fachmännische Tipps, den Wetterbericht für unser Gebiet und aufmunternde Worte. Von Bernds Schwiegersohn Jan informiert, meldet sich die Schiffsversicherung. Sie werden versuchen, vor Ort Schlepphilfe in den Hafen zu organisieren. Gut so, aber da müssen wir ja erst einmal hinkommen!

Der Tag geht einigermaßen rum. Wir haben moderate Wetterbedingungen mit abflauenden Winden und flacherer Dünung. So lässt sich mit der Notpinne ganz gut steuern. Allerdings erfordert es volle Konzentration mit ununterbrochenem Blick auf den Plotter. Die vorher festgelegte rote Kurslinie zeigt die Strecke, die gefahren werden muss. Dazu kommen zwei bewegliche Linien: die blaue zeigt den Kurs, den wir gerade anliegen, die schwarze Linie gibt punktuelle Kursabweichungen des Schiffes wieder, z.B. bei Wellen. Ziel des Steuerns ist es, diese 3 Linien übereinander zu bringen. Nicht einfach! Unmöglich, mit den Steuernden ein Gespräch zu führen oder beim Steuern mehr als ein paar Worte zu wechseln. Abstimmungen erfolgen erst unter den „Freigängern“, dann wird einer der Steuernden abgelöst und unterrichtet, dann der andere. Ist man erst einmal im Steuermodus, kann man nicht einmal auf die Toilette gehen, wenn die andere beiden schlafen und nicht verfügbar sind. Sehr anstrengend!

Rudergehen erfordert höchste Konzentration

Die kommende Nacht ist der wirkliche Horror. Völlig übermüdet und körperlich fertig müssen wir alle drei Stunden aufstehen und mit vollem Einsatz bereit sein zum Steuern. Gott sei Dank liegt das Schiff mit der noch am Tag ausgebaumten Genua ruhiger, so dass nicht mehr ganz so viel zu kurbeln ist. Trotzdem. Tina und Bernd beschreiben die Nachtstunden als Folter, wir als unglaublich brutal. Beide Männer berichten, dass in ihrer Wahrnehmung die 3 Kurslinien spätestens nach 2 Stunden anfangen, auf dem Bildschirm hin und her und auf und ab zu springen und das genaue Steuern dadurch noch viel schwieriger wird.  Und das noch weitere 3 Nächte! Inzwischen haben wir alle aber unsere Steuerfähigkeiten ausgebaut, so dass es jedem möglich ist, kurz die Position zu verlassen. Am Morgen des 2. Tages schaffen es Christoph und Tina sogar, von einer Seite aus beide Leinen zu bedienen (Christoph) oder mit einer festgesetzten Leine die Pinne nur durch Dichtnehmen und Fieren der anderen Leine zu steuern (Tina).

Tina alleine an der Notpinne

Nach der 1. Nachtwache hatte ich noch die Mails gecheckt. Tagsüber dauert es ewig, bis sie von der Kurzwelle übertragen werden, am Abend und in der Nacht geht das Abrufen und Verschicken viel, viel schneller. Noch eine aufmunternde Mail von Funker Uwe mit Tipps zur passenden Segelstellung unter Notpinne und Informationen darüber, wie man die gebrochene Ruderstange vielleicht wieder reparieren könnte. Zusätzlich eine Liste mit 5 verschiedenen Möglichkeiten, wie man ihn im Notfall erreichen kann. Rührend! Am Morgen lesen Christoph und Bernd die Mail. Sie beginnen nachzudenken. Gegen 10 Uhr am Vormittag, ich habe Freiwache und will gerade mal für eine Stunde zum Ausruhen aufs Sofa, sagt Christoph, ich solle mal kurz Bernd beim Steuern ablösen, er müsse etwas mit ihm besprechen. Eine Viertelstunde später erscheint Bernd wieder im Niedergang mit der Ansage: „So Mädels, ihr müsst jetzt mal ne Zeitlang alleine klar kommen, wir bauen jetzt eine Werkstatt auf!“ Na gut. Auch Tina und ich sind inzwischen ein eingespieltes Steuer-Team und Schlafen können wir ja in A Coruna. Immer wieder linsen wir von den Cockpitbänken nach unten in den Salon, der sich tatsächlich in eine Werkstatt verwandelt. Sie brauchen Laken zum Abdecken. Aha, nehmt die Bettlaken und Ikeadecken! Und wofür?? Beim Flexen gibt es halt Metallsplitter und beim Sägen und Bohren Dreck. Flexen? Bohren? Sägen? Kurze Zeit später hören wir die dazu passenden Geräusche, immer wieder unterbrochen von kräftigem Fluchen, wenn eine größere Welle das Boot wieder zu unpassender Zeit heftig krängen oder ruckeln lässt. Nach 2 Stunden bekommen wir Mädels einen ersten Zwischenbericht. Angeregt durch Uwes Ausführungen hätten sie sich überlegt, wie man aus dem langen Aluminiumrohr, das die Rigger im März 2019 zur Verlängerung ihrer Werkzeuge gebraucht hatten, eine Ersatzruderstange bauen könnte. Und entgegen meiner gegensätzlichen Meinung würde es sich wieder einmal als gut und richtig herausstellen, dass er alles aufhebe bzw. kaufe oder sammele, was man vielleicht noch einmal brauchen könnte. Letzteres sind natürlich die Ausführungen meines geschätzten Ehemannes! So haben sie also die gebrochene Stange bis auf die Endstücke abgeflext und das Rohr zugeschnitten. Jetzt wird es über die Endstücke der alten Stange geschoben und mit Schrauben fixiert. Wir Mädels bedienen weiter die Notpinne und zeigen uns beeindruckt. Ob das wirklich funktioniert? Ich hatte den Ausführungen so aufmerksam und neugierig gelauscht, dass ich meine Steuerleine nur festgehalten, aber nicht bedient hatte. Das ist der Moment, in dem sich zeigt, dass Tina auch alleine steuern kann. Ab da bin ich nur noch auf Standby und hole den Computer ins Cockpit, um unsere Erlebnisse aufzuschreiben.

Gebrochene Ruderstange

Es dauert nicht lange, da erscheinen die Jungs wieder im Cockpit. Bereit zu einem ersten Test? Aber klar doch! Bernd verschwindet wieder Richtung Ruderanlage, Christoph stellt sich hinter das Lenkrad. „Jetzt gebt die Leinen frei!“ Wie? Was? Die Leinen loslassen? Dann kann doch Ithaka den Kurs nicht halten! „Gebt die Leinen frei!“, wiederholt Christoph. Okay…. Das Wunder geschieht! Das Steuerrad übernimmt doch tatsächlich wieder seine Aufgabe. Ganz vorsichtig, Grad um Grad bewegt Christoph es nach rechts und nach links, durchs inzwischen wieder zu öffnende Fenster im Achterdeck erfolgt die Abstimmung mit dem First Mate. Einfach unglaublich! Alles funktioniert wie von den beiden geplant. Bernd erscheint im Niedergang, strahlend, mit Pfützken in den Augen. Unser Blick fällt auf Christoph. So freudig, erleichtert und gelöst haben wir ihn schon lange nicht mehr gesehen! Schnell ein Foto! Jubelschreie und Küsschen von uns Mädels für unsere Helden! Sind wir doch dem Wahnsinn wirklich entkommen!!

Dann noch der nächste Schritt. Fachmann Bernd ist der Meinung, dass die neue Konstruktion sogar die hohen Kräfte des Autopiloten aufnehmen kann. Wirklich? Davon hatte Uwe in seiner Mail abgeraten. Ein kurzer Versuch, doch nichts geht. Christoph vermutet, dass die Elektronik des Autopiloten auch einen Schlag abbekommen hat. Vielleicht ist nur eine Sicherung. Richtig, die kleine Überlastsicherung ist durchgeschmort und wird ersetzt. Jetzt ein neuer kurzer Versuch – der Autopilot funktioniert! Dann noch ein Versuch, dann immer länger …. Immer noch läuft alles bestens. Der 5. Mann an Bord bleibt angeschaltet und übernimmt wieder. Die „Baustelle“ in der Achterkajüte bleibt offen, die neue Konstruktion wird stündlich kontrolliert. Wegen der Kollateralschäden steht das Bett dort gerade sowieso nicht zur Verfügung. Der Bettrahmen am Kopfende musste ein Stück herausgesägt werden, Abdeckung und Matratzen passen nicht mehr hinein, da die Behelfsruderstange deutlich dicker ist als das Original. Alles egal! Hauptsache, wir brauchen diese Sch…-Notpinne nicht mehr!

Achterkajüte: Bett nicht benutztbar
Ruderstange: Professionelle Notreparatur

Mit der Aussicht auf eine normale Nacht gehen wir alle vier endlich mal wieder duschen und gönnen uns anschließend jeder ein kleines Bier. Wir sind unglaublich müde, gleichzeitig aber auch völlig aufgedreht.

Noch 200 sm nach A Coruna. Unter diesen Umständen – pillepalle!

Wenn ihr dies lest, sind wir heil angekommen, haben per Land-Internet Fotos eingespielt, den Bericht versendet und hoffentlich schon die ersten Tapas verspeist. Das eine oder andere Bier oder auch Fläschchen Wein haben wir uns bis dahin ganz sicher gegönnt!!

Lagebericht aus A Coruna folgt. Bis dahin liebe Grüße von

Angela, Tina, Christoph und Bernd, die statt der holländischen jetzt halt die spanische Gastlandflagge gehisst haben.

Bernd hisst die spanische Gastlandflagge, Angela schreibt Blog

10 replies »

  1. Wie das Schicksal doch manchmal spielt! Wie gut, dass ihr euch verbündet habt!! Ihr dürft mit Recht stolz auf eure Mannschaftsleistung sein und ich wünsche euch nun auf den verbleibenden Seemeilen ein genussvolleres Segeln, als die heftigen Tage zuvor! Alles Gute und liebe Grüße aus Dabbeljuuppervalley 😊

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  2. Das ist ja der Wahnsinn, einfach unglaublich, die Männer haben ja wirklich vier goldene Hände. Erholt Euch gut.
    Herzliche Grüße von Barbara und Pierre von Bord der Sorciere des Mers, wo nur die Zirkulationspumpe kaputt ist. Das Ersatzteil soll heute aus Spanien in Pula eintreffen.

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  3. Wow, ihr seid jetzt ein wahrhaft „salziger Seehund“, das sind Geschichten, die immer wieder erzählt werden können und euch viele Biere einbringen! Gut gemacht xxx

    Wow, you guys are now well a truly „salty sea dogs“ these are stories that can be told over and over again and earn you many beers! Well done xxx

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  4. Ihr lasst aber auch nichts aus!
    Wir sind froh, dass ihr wieder Gesund und bald wieder munter am Festland angekommen seid.
    Und Gratulation, dass ihr die Situation gemeinsam so bravourös bewältigt habt – Reparaturen auf dem Atlantik sind nicht wirklich einfach.
    Liebe Grüße und viel Glück
    Sibylle und Burkhard
    SY Ithaka

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  5. Da stellt es Einem ja die Haare auf und man leidet beim lesen wie ein Hund mit Euch mit!! Möchte Euch einfach nur wegbeamen können. Wie ihr das Alles geschafft habt, einfach grossartig. Ein riesiges Kompliment. Was für ein Abenteuer und zeitweise ein Alptraum. Wir sind unglaublich erleichtert, dass ihr heil angekommen seid. Jetzt aber genug mit Aufregung, fühlt Euch fest umarmt ihr Lieben, Martina und Daniel, SY Vairea

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  6. Ich bin super beeindruckt wie ihr diese Krise gemanagt habt (und auch noch das Ganze dokumentiert habt) und natuerlich total erleichtert dass ihr es alle heil ans Land geschafft habt! Wir druecken euch ganz lieb, alll the best from La Boheme

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  7. War echt spannend zu lessen. Da habt ihr ordentlich was erlebt und geleistet. Hut ab. Super, finde ich, dass ihr es noch mit vereinter Kraft gemeistert habt den Schaden unterwegs zu reparieren.
    Wir freuen uns mehr von euch zu hören.
    Liebe Grüße von Marret und ‚Wolf von der SY Red Cat

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